Fremdes Georgien – 
Wo die Felsen Augen haben
Bücher

Fremdes Georgien – Wo die Felsen Augen haben

 

Broschur: Klappenbroschur
Seitenzahl: 204 Seiten
Preis: 15,00 €
Verlag: Mana-Verlag

 

Beschreibung

 

Georgien galt als das Italien der einstigen Sowjetunion und tatsächlich bietet es auf kleinem Raum – Georgien ist ungefähr so groß wie Bayern – einen immensen landschaftlichen und kulturellen Reichtum: den Großen Kaukasus mit seinen acht Fünftausendern, das Schwarze Meer, weite Teeplantagen und Mandarinen-Haine – die vielen byzantinischen Kirchen mit ihren einzigartigen Fresken, sein traditioneller Weinanbau wurde von der UNESCO zum immateriellen Weltkulturerbe ernannt, genauso wie der georgische Polyphongesang.

 

Aber es ist auch ein zerrissenes Land, das im gerade einmal 12 Jahre zurückliegenden Krieg mit Russland zwei Provinzen verloren hat, in dem immer noch Stalin verehrt wird und in dem Moderne und Tradition im Widerstreit liegen.

 

Iris Lemanczyk zeigt uns dieses „wunderbare Land“ in einer Sammlung persönlicher Erlebnisse, Eindrücke und heiterer Anekdoten – und stellt uns die Menschen vor, die ihr auf der Reise begegnen. Sie schreibt über Picknick auf dem Friedhof, die Herkunft der Weihnachtsbäume, volle Marschrutkas, in denen auch Hühner mitreisen, über uralte Klöster ohne Nachwuchsprobleme, die Hauptstadt der schwebenden Särge – und natürlich über die Höhlenstadt Vardzia.

 

Leseprobe

 

Vater der Völker

 

Wir können nicht in Gori sein, ohne das Stalin-Museum gesehen zu haben.
„Nukri, was hältst du von Stalin?“

 

Google Translator übersetzt Nukris Wortschwall: „Ein guter Mann. Es ist gut, dass Iosseb Besarionis dse Jughaschvili hier geboren wurde. Sonst würde es das Museum nicht geben und niemand würde sich für Gori interessieren. Wovon sollten wir sonst leben? Durch Stalin vermieten wir Zimmer. Es kommen Russen und immer mehr Westeuropäer wie ihr. Die Besucher essen alles, was Tea auf den Tisch stellt. Stalin – ein guter Mann!“ Mit lauter Stimme fügt er hinzu: „Kleine Völker brauchen große Männer!“

 

Tea bringt das Frühstück: Bratkartoffeln, Weißbrot, Tomaten, Zwiebeln, Schafskäse, Wurst, Kräuter, Oliven, Äpfel und Marmelade. Und Kaffee. Sie lässt durch Google Translator ausrichten: „Stalin war als Kind gut. Seine Mutter Keke war die Tochter einer Leibeigenen, sie arbeitete hart und soll sehr nett gewesen sein, auch zu ihren Nachbarn und sie habe schön gesungen. Der kleine Iosseb nannte sich Soselo und schrieb Gedichte. Das ist doch schön.“ Es klingt, als wäre Tea eine gute Bekannte von Stalins Mutter Keke und würde sich mit ihr hin und wieder auf ein Tässchen Tee treffen. Wobei Keke dafür wahrscheinlich überhaupt keine Zeit gefunden hätte, denn sie arbeitete vor allem als Putzfrau und der kleine Soselo musste seiner Mutter dabei helfen.

 

Vielleicht haben Tea und Nukri einfach gelernt, Gutes über den Diktator zu sagen, weil er zu ihrem Auskommen beiträgt. Außerdem gilt in Georgien, vielleicht mehr noch als anderswo, dass man nichts Schlechtes über Tote sagt. Nicht einmal, dass der Vater des kleinen Iosseb Alkoholiker war und Frau und Kind regelmäßig verprügelte.

 

Die Stalinallee oder der Stalinboulevard ist die Hauptachse von Gori, ein Boulevard muss es für den Generalissimus, den großen Führer der Sowjetunion schon sein. Stalinboulevard Nummer 32, das ist sein Tempel, das Stalin-Museum in sozialistischem Zuckerbäckerstil. Im Jahr 1957 wurde es als Huldigung an den verstorbenen Diktator eröffnet. Schon vor dem Museum grüßt der überlebensgroße Stalin von einem steinernen Sockel herunter. Jemand hat ihm frische Blumen zu Füßen gelegt. Bereits beim Betreten der ehrwürdigen Hallen schreitet man auf einem roten Teppich, der sich zwischen Säulen auf einer Marmortreppe fortsetzt. An ihrem Ende steht die nächste Stalin-Statue, die gerade von asiatischen Besuchern belagert wird, die sich gegenseitig mit dem Vater der Völker ablichten. In Saal eins: ein Gedicht des kleinen Soselo, sechs seien überliefert, und Wandteppiche mit Porträts des großen Stalin. Stalin ist sein Pseudonym oder Kampfname, den er sich im Laufe der Jahre zugelegt hat: „der Stählerne“. Jede Menge Fotos und Gemälde zieren den Raum, Stalin ist omnipräsent: Stalin als Jugendlicher, sanft und knabenschön, eine Rubaschka, die russische Bauernbluse, statt Uniform tragend, Stalin als Staatsmann, Stalin vor der Oktoberrevolution, Stalin nach der Oktoberrevolution, Stalin als Parteiführer, Stalin als Generalissimus im Zweiten Weltkrieg, Stalin mit Lenin, Stalin doziert, Lenin notiert, Stalin mit Roosevelt und Churchhill, Stalin umringt von Arbeitern, Stalin, Stalin, Stalin.

 

Ich lausche bei einer englischen Führung. „Unter Stalin gab es keine Arbeitslosen, Bildung war gratis, genauso die Krankenhäuser. Die Menschen hatten genug zu essen…“ Kein Wort von Hungersnöten mit Millionen Opfern etwa in Kasachstan, kein Wort über Millionen Menschen, die unterjocht und bespitzelt wurden, in Schauprozessen verurteilt, gefoltert, deportiert, umgebracht oder sich in Gulags zu Tode schuften mussten. Millionen Menschen! Kein Wort von den 72 000 Georgiern, die erschossen und den 200 000 Landsleuten, die deportiert wurden. Kein Wort von irgendwelchen Gräueltaten des zweitschlimmsten Verbrechers des 20. Jahrhunderts. Stattdessen ein Hinweis auf sein gelungenes Konterfei auf einer Vase.

 

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